Die Legende von Aleister Crowley

von Israel Regardie, P. R. Stephensen

Leseprobe aus Kapitel 1 - Crowley der Mensch (I)
Aleister Crowley ist ein Mensch. Und es gibt eine Menge Leute, die entweder auf betont wohlwollende Weise oder - häufiger noch - in höchst verächtlichem Tonfall hinzufügen würden "Ja, aber was für einer!" Ich werde mich bemühen, solcherlei Extreme zu meiden. Ich kann nicht richtig mit Leuten diskutieren, die der Meinung sind, Crowley sei mehr als nur ein Mensch - einer aus der Hierarchie der Jenseitigen nämlich. Ebenso wenig aber gelingt es mir, mit Leuten zu diskutieren, die behaupten, er sei weniger als ein Mensch - nämlich (um es gelinde auszudrücken) ein Dämon in Menschengestalt. Als Nicht-Okkultist fühle ich mich nicht befugt, mich auf solche magischen Fachdiskussionen einzulassen. Eines der schlagkräftigsten Argumente, die es zu Gunsten Crowleys vorzubringen gibt, ist die Tatsache, dass er ohne jeden Zweifel ein Mensch ist.
Mehr noch: ein interessanter Mensch, ein außergewöhnlicher Mensch; und außerdem ein verdammt guter Dichter - sowohl was seine Lyrik angeht als auch sein Leben. Über sein dichterisches Schaffen weiß die Öffentlichkeit so gut wie nichts. Dafür sind eine Menge schmutziger Gerüchte im Umlauf. Ich schätze mich glücklich, nach eingehender Untersuchung sagen zu können: Diese Gerüchte sind erwartungsgemäß falsch, jedoch noch schändlicher, noch schäbiger als alles, was man diesem Mann zuvor schon in die Schuhe geschoben hat.
Dreißig Jahre lang bewarf man Crowley unverdrossen mit jeder Menge Schmutz, um sich in den letzten Jahren in ein regelrecht Bombardement hineinzusteigern. Schmutzwerfen auf Crowley - das ist zu einer beliebten sportlichen Disziplin geworden. Was umso leichter fällt, da er sich nicht die Mühe macht, dem geworfenen Schmutz auszuweichen. Er glaubt, er könne nicht getroffen werden, er hält jenen Schmutz und diejenigen, die damit werfen, für kurzlebige Erscheinungen, für gar nicht vorhanden, er misst ihnen keinerlei nennenswerte kosmische Bedeutung bei. Schreibt beispielsweise ein Journalist einen abfälligen Dreispalter, in dem er ihn mit Jack the Ripper vergleicht, scheint Crowley davon auszugehen, solch blanker Unfug werde von intelligenten Menschen ohnehin nicht geglaubt - und was die Nicht-Intelligenten denken, sei sowieso egal. Es ist gut möglich, dass Crowley das auf dieser Welt bestehende Ausmaß an mangelnder Intelligenz unterschätzt. Er ist ein ausgesprochen talentierter Literat, doch gegen die skurrilen Anfeindungen von Journalisten wie James Douglas und Horatio Bottomley hat er sich nie richtig verteidigt. Glaubt er womöglich, sie hätten es gar nicht verdient, von ihm ernst genommen zu werden?
Falls ja, so hindert sein Hochmut ihn vielleicht an der Erkenntnis, dass viel, sehr viel von dem geworfenen Straßenschmutz an ihm klebengeblieben ist. Eine Reihe "Normalbürger", die sonst einen durchaus intelligenten Eindruck machen, empfinden Unbehagen, wenn Crowleys Name fällt und denken, an dem Gerede müsse ja "was dran sein". Sie ziehen es vor, ihr Wissen über ihn aus der Gerüchteküche und der Lügenpresse zu beziehen, sie wollen "auf Nummer Sicher gehen" und lieber nichts mit Aleister Crowley zu tun haben. Es ist schwer, solche Leute bei einer Diskussion aus der Reserve zu locken. Sie wollen darüber nicht reden. Trotzdem sind es Vorurteile, einfach nur Vorurteile, die sie gegenüber Crowley hegen. Er ist für sie gleichermaßen Anathema und Tabu.
Warum eigentlich? Wer oder was ist Aleister Crowley, dass man ihn wie keinen Zweiten zur Zielscheibe infamer Lügengeschichten macht? Diese Frage ist es, der ich in meiner kleinen Studie nachgehen möchte. Crowley ist ein kraftvoller Poet, und kraftvolle Poeten erfreuen sich meist keiner allzu großen Beliebtheit, siehe Byron etc., der auch heute noch als zweifelhafte Figur gilt. Jener morbide und weltfremde Schmierfink namens James Douglas schrieb erst kürzlich mit einem Schaudern über den "fettleibigen" Byron.
Wahrscheinlich hätte Byron Douglas bei einem Wettschwimmen über den Hellespont gern ein wenig Starthilfe gegeben - von wegen Plattfuß, angebliche Fettleibigkeit etc. Noch viel wahrscheinlicher hätte er ihm sogar die Benutzung eines Schlauchboots gestattet. Und derselbe tintenklecksende Sportsmann war es, der Crowley als degeneriert und bösartig bezeichnete - einen Mann, der mehr Berge erklommen hat als Douglas je Artikel geschrieben. Und Berge reichen höher hinauf als die in einem Sonntagsblatt erlaubten Spitzfindigkeiten; und sind schwerer zu bewältigen ...
Will man die Motive ergründen, die zu den Attacken auf Crowleys Leumund führten, so sollte man nie vergessen, dass er ein Dichter war, ein erfolgreicher Dichter, d. h. einer, der seine Berufung zum Poeten erfolgreich in die Tat umsetzte. Die Ressentiments von Kleinpoeten und frustrierten Dichterlingen wie James Douglas gegen einen erfolgreichen Kollegen können schreckliche Züge annehmen. Es hieße jedoch ins Unrealistische abzugleiten, wollte man sämtliche Legenden, die über Crowley verbreitet wurden, ausschließlich dem bitteren Neid seiner poetischen Mistreiter zuschreiben. Selbst dafür waren ihre Übergriffe noch zu boshaft. Wir müssen uns also anderswo auf die Suche machen.
Der Vaterlandsfreund Bottomley hat James Douglas bei der Ausgestaltung der Crowley-Legende in ihren gröbsten Bestandteilen, in ihren populärsten und aufsehenerregendsten Komponenten, auf jeden Fall zur Seite gestanden. Was sollen wir schon über den armen Bottomley sagen? Crowley hätte wahrscheinlich gesagt: "Er hat schon genug gelitten. Und genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken." Trotzdem kommen wir nicht dran vorbei, Bottomley und seinen John Bull ebenso wie James Douglas und seinen Sunday Express zu den Haupt-Schmutzwerfern gegen die in Bedrängnis geratene Hau-den-Lukas-Gestalt Crowley zu erklären .
Crowley hat jahrelang im Ausland gelebt. Und eigentlich hätte man meinen können, schlafende Hunde würden nicht geweckt werden - aber von wegen. Erst im Mai 1929 wurde Crowley im John Bull wieder einmal als "schlimmste Person Englands" bezeichnet, gefolgt von der Warnung, er möge ja nicht wieder zurückkommen. Als Crowley nach London kam, traf er sich zu einem gemütlichen Abendessen mit einem Scotland Yard-Chef, und damit hatte es sich.
Die Herausgeber seiner mittlerweile im Druck befindlichen Autobiografie hatten bei ihrer Arbeit viel zu Lachen. Komische Käuze kamen in ihr Büro angetanzt, um kryptische Warnungen auszustoßen und wieder zu verschwinden, ohne dass jemand ihre Identität hätte feststellen können. Einer von ihnen murmelte: "Vergesst nicht, eure Finger zu kreuzen, wenn ihr von Aleister Crowley sprecht." Tatsächlich hielt er die eigenen Finger während seiner Anwesenheit in unserem Büro fortwährend gekreuzt. "Dieser Mann hat übernatürliche Kräfte", sagte er. "Er kann Gedanken lesen; ja, er weiß, was wir jetzt in diesem Moment denken." Auf weitere Nachfrage wollte der seltsame Besucher keine Auskunft mehr erteilen, sondern machte sich nur - mit nach wie vor gekreuzten Fingern - von dannen und raunte mit schauriger Stimme wie der Geist von Hamlets Vater: "Vergesst es nicht, vergesst es nicht!"
Auch andere liebe Freunde gaben dem Herausgeber ihre "eindringlichen Warnungen" mit auf den Weg und meinten es sogar gut. Die meisten von ihnen staunten nicht schlecht, wenn sie z. B. während einer Diskussion erfuhren, dass Crowley wieder in England weilte und wie ein ganz normaler Schriftsteller seinem Handwerk nachging, Druckfahnen korrigierte und die Zeitungen nach Buchkritiken durchforstete. Irgendwie hatten sie alle geglaubt, Crowley würde, sobald er einen Fuß auf die Insel setzte, sofort verhaftet werden. Als sie erfuhren, dass Crowley im Laufe seines abenteuerlichen Lebens nicht ein einziges Mal irgendeines Verbrechens beschuldigt worden war, sagten sie: "Hm, da sieht man mal, wie durchtrieben der Kerl ist."
Die Legende lebt.
Viele Buchhändler weigerten sich hartnäckig, Werbeprospekte für Crowleys Bücher zu verteilen oder seine Autobiografie in ihr Sortiment aufzunehmen - selbst dann noch, als Bestellungen eingingen. Der typische Einwand von Personen, die keine Zeile des Buches selbst gelesen hatten, lautete: "Wir wollen mit diesem ganzen Liebeskult-Zeugs nichts zu tun haben!" So gut wie alle ermahnten sie die Verleger in freundlichem Tonfall, "in allem, was mit Crowley zu tun hat, vorsichtig, sehr sehr vorsichtig zu sein".
Ein konkreter Fall: Da betrat ein Fremder eine Buchhandlung, die mit einem Werbeplakat Reklame für das Buch machte. Er interessierte sich sehr für den Namen Aleister Crowley und stellte den Buchhändlern zahlreiche Fragen. Dann erzählte er ihnen folgende verwunderliche Geschichte: Seine Tochter, die eine Klosterschule in Frankreich besuche, sei von einem Priester, der dort Gastvorlesungen hielt, davor gewarnt wurden, auch nur eine Zeile von Crowley zu lesen. Natürlich zeitigten diese Warnungen das erwartete Resultat: Nach ihrer Schulzeit war das Mädchen ganz erpicht darauf, die so streng verbotene Frucht zu kosten oder zumindest in Augenschein zu nehmen. Tag und Nacht lag sie ihrem Vater in den Ohren, er möge doch versuchen, ihr einige Crowley-Bücher zu besorgen.
Man könnte noch viele Beispiele anführen. Ich glaube jedoch, das von mir Zitierte reicht, um die Hartnäckigkeit zu dokumentieren, mit der die Crowley-Legende bis auf den heutigen Tag ihre Kreise zieht. Allein die Frage, wie in unserem so abgeklärten 20. Jahrhundert eine solch romantische Überlieferung, deren Hauptfigur sogar noch am Leben ist, überhaupt entstehen konnte, sollte zum vordringlichen Studienobjekt wenigstens der vergleichenden Religionswissenschaft werden. Sonst werden die modernistischen Professoren der Nachwelt Crowley früher oder später zum Sonnenmythos erklären. Weswegen ich ganz entschieden auf der Prämisse bestehe, dass Crowley ein Mensch war, was die Erforschung des Mythos ja noch interessanter macht. Falls auch nur ein Bestandteil dieser Legende sich als wahr oder wenigstens halbwahr erweist; falls er im Himalaya-Gebirge auch nur einen Kuli (statt deren zwei, wie man sich üblicherweise erzählt) getötet und verspeist hat, wird es - Dichter hin, Dichter her - zu meiner schmerzlichen Pflicht werden, ihn bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen, sofern er mich nicht vorher ebenfalls auffrisst. Sollte die Legende sich jedoch als unwahr erweisen, muss der Gerechtigkeit auf ganz adäquate Weise Genüge getan werden.

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