Die Templer, der Gral und der Mann mit der eisernen Maske
Der Zeigefinger des Täufers
von Sabina Marineo

Auszug aus dem 1. Kapitel: Ein Stapel grüner Hefte
Auf die Suche nach der wahren Bedeutung des Grals begab ich mich schon vor einigen Jahren. Damals wusste ich wenig über die Legenden, die sich um den Gral rankten, und hatte mich noch nie mit geheimen Orden oder Bruderschaften auseinander gesetzt. Eigentlich wusste ich nicht einmal von ihrer Existenz. Meine Geschichtskenntnisse beschränkten sich auf den Stoff, den man normalerweise in der Schule lernt, und sie genügten mir völlig.
Denn diese Art, die menschliche Vergangenheit zu erforschen, war nicht die meinige. Sie erschien mir als ein Aneinanderreihen von Daten und Ereignissen, deren kausale Zusammenhänge manchmal undeutlich und oft mangelhaft dargelegt wurden. Offen gesagt, unter solchen Voraussetzungen spürte ich kein Verlangen, mich mit noch zahlreicheren, oberflächlicheren Informationen zu plagen.
Wahrscheinlich wäre keine tiefere Auseinandersetzung mit der Geschichte in Frage gekommen - meine damaligen Interessen lagen woanders -, hätte ich nicht, eines Tages, nach dem Tode meiner Eltern, einen unbekannten Stoß neuer Bücher in der Anwaltskanzlei meines Vaters entdeckt.
Sie lagen im Wartezimmer, auf dem Couchtisch, ordentlich gestapelt; besser noch, man hatte den Eindruck, sie seien druckfrisch direkt auf dieses Tischchen gelegt worden.
Es war unheimlich: Erstens kannte ich alle Bücher meines Vaters sehr gut und konnte deswegen mit Sicherheit sagen, dass dieser Stapel zuvor nie da gewesen war; zweitens konnten die Bücher nicht von selbst auf den Tisch gelangt sein, jemand musste sie also dort deponiert haben.
Wie auch immer, ich begann, den Bücherstoß zu untersuchen. Die dünnen, grünen Hefte sahen alle gleich aus, es waren zwanzig Kopien derselben Ausgabe. Ich las aufmerksam ein Heft vom Anfang bis zum Ende und wurde so zum ersten Mal mit den berüchtigten Protokollen der Weisen von Zion vertraut gemacht.
Der Inhalt des Buches erwies sich als höchst beunruhigend: Der Text war in 24 Artikel gegliedert und schilderte ein Menschen verachtendes Programm, um die Kontrolle über die ganze Welt zu erlangen.
Ein rätselhaftes Gremium, das sich als die Vertreter Zions des 33. Grades bezeichnete und sich durch wiederholte Andeutungen als eine Sekte jüdischer Abstammung ausgab, behauptete, heimlich die Fäden der internationalen Politik in der Hand zu halten; mit allen möglichen Mitteln, mit Hilfe von Konspirationen und zweifelhaften Machenschaften zielten die Weisen von Zion auf den Sturz der Regierungen und auf die Einführung ihrer absoluten despotischen Kontrolle über sämtliche politische, wirtschaftliche und soziale Institutionen der Welt. Die anonymen Verfasser behaupteten, sie lenkten schon lange die Geschichte der Völker nach einem Plan, von dem seit Jahrhunderten niemand etwas erfahren hatte.
Als ich ziemlich verwirrt und überrascht zum Ende des Buches gelangte, entdeckte ich die kleine Inschrift auf der letzten Seite, die den Herausgeber des Heftes bezeichnete: die Schweizerische Großloge des Orients. Freimaurer?
Damals wusste ich in diesem Zusammenhang noch viel zu wenig. Also nahm ich den Stapel grüner Hefte mit und stellte ihn griffbereit in eine Ecke meiner Wohnung. Denn etwas an diesen Publikationen machte mich sehr neugierig. Und da ich mich ein bisschen schlauer machen wollte und mit meinen spärlichen Geschichtskenntnissen wenig anfangen konnte, beschloss ich, eine Freundin zu befragen, die Professor für Moderne Geschichte war. Beim Kaffeetrinken zeigte ich ihr die Hefte.
Sie blätterte ein Buch durch, las ein paar Seiten, und erklärte schließlich, die Protokolle stammten vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts und seien das Werk eines antisemitischen Esoterikers namens Nilus. Dieser Mann verkehrte am Hof der russischen Zaren und soll persönlich eine erste Version des politischen Programms verfasst haben, um seine Rivalen, die einer anderen esoterischen Gruppierung angehörten, vor dem Zar Nikolaus II zu diskreditieren. Doch das Manöver funktionierte nicht; der Zar weigerte sich, an die Verleumdungen Nilus' zu glauben. Daraufhin soll der Intrigant sein Dokument gezielt verändert und schließlich als Beweis einer jüdischen Weltverschwörung in Umlauf gebracht haben. Denn er hasste die Juden.
Auf diesem Wege wurden die verleumderischen Protokolle überall in Europa gedruckt, verkauft und als antisemitische Propaganda benutzt. Man verbreitete das Gerücht, das Dokument sei 1897 während des ersten Zionistischen Weltkongresses in Basel verfasst worden.
Doch vor einigen Jahren kam die Wahrheit ans Licht: Die Protokolle waren von verschiedenen zeitgenössischen Werken und Romanen französischer Schriftsteller inspiriert und tatsächlich waren die ersten Ausgaben auf Französisch verfasst worden.
Diese Entdeckung entlastete den Zionistischen Weltkongress; denn es ist schlichtweg unmöglich, dass eine erste Ausarbeitung des Dokumentes in Basel stattfand, weil kein französisch sprechendes Mitglied am Weltkongress teilnahm.
Wie auch immer - so meine Freundin - stellten die Protokolle eine Propaganda gegen die Juden dar und es sei besser, ich würde sämtliche Hefte in den Müll werfen und mir nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen. Anscheinend versuche eine freimaurerische Loge, sagte sie, ihre rassistische Propaganda zu betreiben, nicht mehr und nicht weniger.
Doch auf meine Frage nach dem Ursprung dieser Großloge des Orients konnte auch sie keine Antwort finden.
Eines war mir jedenfalls klar: Die Großloge des Orients verbreitete antisemitische Publikationen. Warum? Das machte mich selbstverständlich noch neugieriger, doch ich betrachtete die Schlussfolgerung meiner Freundin als angemessen und ließ einfach die Finger davon. Wenigstens für eine Weile.
Vielleicht hätte der seltsame Vorfall auf diese Weise sein Ende gefunden, wenn ich, ungefähr zwei Jahre später, nicht ein weiteres Buch in die Hände bekommen hätte.
Ein Freund schenkte mir ein Taschenbuch, das er neulich gekauft und nicht mal zur Hälfte gelesen hatte. Eigentlich wollte er einen packenden historischen Roman erwerben und ließ sich vom Titel "The Holy Blood and the Holy Grail" in die Irre leiten. Doch beim Lesen entdeckte er, dass das Buch kein Roman war, sondern sich mit einer realen Gegebenheit beschäftigte, einer ziemlich heiklen noch dazu, die womöglich seinen religiösen Glauben in Frage stellen konnte, und war tief enttäuscht.
Er konnte damals noch nicht wissen, dass diese Publikation ein echter Bestseller werden und zukünftige Generationen von Schatzsuchern begeistern würde. Denn es handelte sich um die englische Originalfassung des Buches "Der Gral und seine Erben" von Lincoln, Baigent und Leigh.
Ich konnte auch nicht ahnen, was ich in den Händen hielt, als ich mich bei ihm bedankte und das Buch in die Tasche steckte. Vielmehr dachte ich, eine spannende angenehme Lektüre geschenkt bekommen zu haben, die mir die Zeit vertreiben würde.
Doch dieses Buch bezeichnete meine zweite Begegnung mit Zion.
Als der Titel der Protokolle von Zion auf den Seiten des Taschenbuches erschien, hatte ich den unheimlichen Eindruck, ein Dejá-vú zu erleben. Es fielen mir sofort die grünen Hefte ein, die vor zwei Jahren in der Kanzlei meines Vaters auf dem Couchtisch gelegen hatten. Außerdem gelang es mir herauszufinden, dass die Schweizerische Großloge des Orients, welche die grünen Hefte veröffentlicht hatte, mit der Schweizerische Großloge Alpina eng verbunden war, und diese letzte stellte - laut den drei Journalisten - ebenso den Herausgeber zahlreicher Bücher dar, die sich alle auf einen Geheimorden, die Prieuré de Sion, bezogen.
Umso interessanter war diese Bemerkung, da die Journalisten vermuteten, die ältere Originalfassung der Protokolle von Zion sei von einer freimaurerischen Loge niedergeschrieben worden; später habe der Esoteriker Nilus den Text umgeändert und ihn somit für seine antisemitische Propaganda benutzt. Wir hätten es also mit einer Art Palimpsest - so die Journalisten - zu tun, das heißt mit einem Dokument, das, in diesem Fall zu verleumderischen Zwecken, neu geschrieben worden war.
Wenn dem aber so war, dass die erste Version der Protokolle von einer freimaurerischen Loge verfasst wurde, vielleicht von der Prieuré de Sion selbst, und wenn die Großloge Alpina mit der Prieuré und gleichzeitig mit der Großloge des Orients noch heute in Verbindung steht, konnten die Dokumente nicht von Anfang an einen antisemitischen Charakter besessen haben? Denn anscheinend veröffentlicht die Großloge des Orients immer noch antisemitisches Material.
Doch Lincoln, Baigent und Leigh behaupteten, die Großloge Alpina weigere sich, die Prieuré-Publikationen als die ihrige anzuerkennen: Benutzte jemand unbefugterweise den Namen der Loge?
Also suchte ich die geheimnisvollen grünen Bücher, um ihre Informationen mit denjenigen der drei Journalisten zu vergleichen. Doch sie waren verschwunden. Der ganze Stoß war auf einmal weg. Im Laufe der zwei Jahre war der Stapel nur in einer Ecke des Zimmers verstaubt, niemand hatte ihn mehr in die Hände genommen und es war gut möglich, dass man ihn eines Tages in den Müll geworfen hatte.
Mehrmals las ich die Veröffentlichung der Engländer und versuchte mich mit ihrer Faktendarlegung zu konfrontieren, um meine eigene Schlussfolgerung nachzuvollziehen.
Die Autoren glaubten, dass Jesus, der Nachkomme des Stammes Davids, mit Maria Magdalena verheiratet gewesen sei; er habe mit ihr Kinder gezeugt und somit eine Dynastie gegründet, die sich später in Südfrankreich fortsetzte.
Das Blut Christi, the holy blood, oder auf französisch der sang real, wäre demnach identisch mit dem Gral; im Laufe der Jahrhunderte und der historischen Ereignisse bildete sich um den Stamm Jesu eine verborgene Strömung, deren Mitglieder, wie die Prieuré de Sion, sich als Gralshüter betrachteten. Wiederum verkörperten die Nachfahren des Heilands die Gralserben, die Träger des sang real.
Die Gralshüter wirkten fortdauernd im Schatten der offiziellen Geschichte, um die Dynastie Jesu an die Macht zu bringen und womöglich die internationale Politik nach ihren Plänen zu lenken. In diesem Sinne wäre es nicht so weit hergeholt, zu vermuten - dachte ich damals -, dass die Prieuré selbst als Gralshüter das politische Programm der Protokolle geschrieben hat.
Die geheimnisvolle Prieuré de Sion hat ihre Wurzeln sowohl in Frankreich als auch im Heiligen Land und die Fortdauer ihrer Existenz bis zum zwanzigsten Jahrhundert wird von fragwürdigen Dokumenten aus der Bibliothéque Nationale zu Paris belegt.
Über die Prieuré konnten die Engländer zahlreiche Publikationen in der Bibliothéque Nationale ausfindig machen, viele von denen wurden eben von der Großloge Alpina, in der Schweiz, gedruckt. Sie wandten sich also der Großloge zu, um eine Erklärung in Bezug auf ihr Verhältnis zur Prieuré zu suchen; doch die Loge, wie schon gesagt, weigerte sich, die Publikationen als ihre eigenen anzuerkennen.
Der Bericht der Journalisten war außerdem mit spannenden, geheimnisvollen Situationen durchsät: Dokumente, die spurlos verschwanden; rätselhafte Figuren, die heimliche Begegnungen inszenierten; und Leute, die in das Geheimnis eingeweiht waren und plötzlich, ohne ersichtlichem Grund, tot aufgefunden wurden. Alle diese Elemente machten die Geschichte noch interessanter.
Das ist im Großen und Ganzen die Theorie des englischen Bestsellers. Ich fand es faszinierend. Denn es war nicht nur eine neue geschichtliche Einstellung, sondern auch eine mutige Behauptung. Sie griffen die kirchlichen Dogmen und die katholische Deutung der vier Evangelien an, und das in einer Zeit, in der man die Handschriften vom Toten Meer kaum kannte und wenige Leute sich getraut hätten, mit einer solchen Offenheit über Jesus zu sprechen.
Ich betone es, weil dieses Buch von Lincoln, Baigent und Leigh heute viel kritisiert wird; alle wollen unbedingt in seinen Seiten Ungereimtheiten, Fehler und Anmaßungen entdecken: doch immerhin sind die drei Autoren die ersten gewesen, die einen Blick hinter den Vorhang wagten. Sie legten ihre Theorien kompromisslos dar und erweckten somit das Interesse der Öffentlichkeit und der Historiker zugleich über den Templerorden, Jesus, den Gral, die Katharer und die Freimaurer: alles Themen, die bereits seit langem in Vergessenheit geraten waren.
Als ich mich mit meinen Bekannten über das Buch unterhielt, merkte ich allerdings sofort, dass sie sich in erster Linie von der neuen menschlicheren Darstellung der Figur Jesu und in zweiter von der Möglichkeit, dass er eine Dynastie begründet habe, entrüstet zeigten. Sie waren nicht besonders religiös, doch waren sie christlich erzogen worden und insofern gewöhnt, dass man bestimmte Glaubensvorstellungen nicht zur Debatte stellt. Dieses Verhalten in Bezug auf das Thema machte ein konstruktives Gespräch von Anfang an unmöglich.
Mir hingegen fiel es nicht so schwer, heikle Fragen in dem Zusammenhang zu stellen.
Also, nachdem ich in "The Holy Blood and the Holy Grail" von den neuen Facetten der Jesusfigur und von der Möglichkeit, das Geheimnis seiner Dynastie verkörpere den Gral, gelesen hatte, begann ich mich mit der Person des Heilands ausführlich zu beschäftigen. Vor allem entdeckte ich, dass die Belege für seine Existenz sehr spärlich und sehr fraglich sind: Bis dahin hatte ich wie die meisten anderen Leute geglaubt, die geschichtliche Gestalt Jesu gälte als gesichert. Tatsache ist, dass seine historische Existenz in der katholischen Welt einfach als eine Selbstverständlichkeit angenommen wird; insofern macht man sich nicht einmal die Mühe, nach Beweisen zu suchen.
Doch die Wahrheit sieht ganz anders aus: Viele seriöse Historiker, die sich tiefgründig mit dem Thema befasst haben, verbannen Jesus aus Mangel an Beweisen ins Reich der Legende, ungefähr so, wie es Odysseus oder der Zauberin Circe bereits widerfahren ist. Andere Wissenschaftler, wiederum, behaupten resigniert, dass, wenn ein Historiker im Sinne des katholischen Glaubens Jesus verehren will, er sich am besten jeder historischen Forschung enthält und dass er die Tatsachen nehmen soll, wie sie sind: In diesem Fall triumphiert der Glaube über jede Vernunft.
Angesichts dieser Tatsachen fühlte ich mich ein bisschen betrogen, was meine Meinung über die vier Evangelien betraf: Denn ich hatte bisher geglaubt, sie erzählen immer die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts Anderes als die Wahrheit, genau so, wie es sich im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Palästina abspielte.
Aber eine einzige Wahrheit gibt es nicht; vielmehr zeigt sie viele Gesichter, und jedes von ihnen hängt zum großen Teil vom Betrachter ab.

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